
Es ist 06.22 Uhr. Ich schaue aus meinem Fenster links neben meinem Bett. Es ist dunkel. Ich bin wach und fühle diese Aufregung in meinem Körper wallen wie kurz vor einem Wettkampf. Hin und zurück? Schaffe ich das? Miri ruft mich an – sie klingelt nicht, um Stefan nicht aufzuwecken. Sie ist hellwach, hat fertig gepackt und startbereit. 70km. Mit meinem Rennrad. Der Vorbau ist doch… Ich verbiete mir diesen Gedanken. Es wird schon klappen.
Wir fahren mit dem Aufzug hinab und öffnen die Haustür. Links davon ist mein goldener Tourenrenner. Ich zücke den Schlüsselbund und schiebe den Schlüssel mit dem schwarzen Griff in den schmalen Schlitz, spüre, wie die Schließspleizen sich zur Seite schieben und der Schlüssel dazwischen gleitet bis zum Ende, bis er anstößt. Ich drehe den Schlüssel und das Schloss springt auf. Wir prüfen die Sattelposition, schrauben, stellen ein und setzen uns dann auf den Sattel. Es geht los.
Eine Radreise braucht kaum körperliche Vorbereitung – die Fitness erlangt man währenddessen. Was man braucht ist wortwörtlich Sitzfleisch. Hornhaut und die Fähigkeit lange zu sitzen.
Das Vorhaben heute: Mit dem Fahrrad bis an den Fuß des Wendelsteins zu fahren. Eben diesen besteigen. Wieder runter. Und zurück radeln. Das sind ca. 150km auf dem Fahrrad und 13km / 1000hm zu Fuß. Vorgestern war meine längste Ausfahrt mit 62km dieses Jahr. Heute ist der 6. Februar. Es wird allerdings warm werden. Ich freue mich darauf. Stelle mir vor, wie wir in der Sonne sitzen, genießen und Pause machen.
Jetzt habe ich noch dicken Handschuhe an. Ich habe meine dünnen Handschuhe nicht gefunden und sitze jetzt mit Hochtouren-Handschuhen auf dem Fahrrad. Sie sind so dick, dass ich nach wenigen Minuten an den Händen zu schwitzen anfange.
Wir rollen auf die Wolfratshauser Straße, biegen in die Ludwigshöher ab. Es dämmert gerade. Auf der Wiese links von uns sind noch keine Farben zu erkennen.
Auf der Großhesseloher Brücke klacken die Holzdielen wie gehabt im Rhythmus unserer Räder. Klack. Klack. Klack. Dann scharf nach links und im Bogen hinauf. Grünwald. Die Pizzeria. Vor 10 Monaten haben wir hier unsere erste Radausfahrt zusammen gemacht und Pizza bestellt. Apropos: Ich habe nur wenig gefrühstückt. Wir queren nach Osten, am Südrand des Perlacher Forsts vorbei. Oberhaching und Deisenhofen. Hier verwirren mich die vielen parallelen Weggabelungen direkt neben dem Bahnhof fast jedes mal – „Wo lang?“, fragt Miri im Rollen. Links? Mitte? Rechts? Ich versuche schnell zu reagieren. Schließlich rollt sie den mittleren Weg hinab, während ich links auf dem Gehweg bin. Die mittlere Straße trifft unten auf eine Querstraße – und geradeaus gibt es nur eine Treppe. Ups. Miri muss wieder hinauf.

Von Deisenhofen gibt es den Parallel-Radweg nach Sauerlach. Ich bin ihn letztes Jahr zuletzt gefahren. Damals war er noch teilweise geschottert. Können wir den mit Rennrad wagen?
Gleich darauf sehen wir, dass der Weg mittlerweile asphaltiert ist. Sauerlach. Es ist hell. Im Osten brennt der Sonnenaufgang ein rot-orangenes Loch in den wolkig-blauen Himmel.
In Holzkirchen gibt es Butterbreze und einen Rhabarberplunder. Wir setzen uns auf eine bodennahe Stange direkt vor dem Marktgebäude. Wir sind leicht verschwitzt. Es ist kühl und meine Gedanken laufen einen dreifachen Kreis:
Es kann doch nicht sein, dass wir hier jetzt in der Kälte sitzen müssen! Und doch, das tun wir.
Unterhalb der Autobahn über das Mangfalltal. Weyarn. Am KletterZ und den Tesla-Ladestationen vorbei.
Miesbach und dann den Schliersee.

In Schliersee gibt es eine ruhige und hügelige Variante über das Westufer, die doppelt so lang ist, wie die Hauptstraße. Wir nehmen den östlichen Weg. Zwischen Neuhaus und Aurach gibt es nur einen grob schottrigen Radweg. Also auf der Hauptstraße Richtung Fischbachau. Am Haus Hammer vorbei, indem ich schon sehr häufig übernachtet habe. Hier finden auch jährlich die Flinkfüßer-Festspiele statt- ein Berg-Staffellauf mit hohem Spaßfaktor.

Die letzten Kilometer nach Osterhofen. Die Räder kommen hinter die Bergstation. Der Parkplatz ist mit geschätzten hundert Autos belegt. Umziehen. Flaschen auffüllen am kleinen Bach. Und dann mit Trailrunning Rucksack aufwärts. Hier ist es schließlich richtig warm. Mir läuft der Schweiß hinab. Es fehlt der Fahrtwind im Gesicht. Schnee und Spuren darin. Die Bergstation. Und viele, viele Menschen auf den Serpentinen bergauf.
Wir erreichen den Gipfel des Wendelsteins nach 6 Stunden und 20 Minuten. Es ist ergreifend. Ein kleiner Traum erfüllt: Von München aus eigener Kraft bis zu einem hohen Gipfel zu kommen. Wir sind in München auf 550m ü NN gestartet an mehreren Flüssen entlang, Autobahnen, Kilometer um Kilometer und schließlich durch den Schnee hinauf.
Bergab rennen wir mit Spikes durch den Schnee. Hündin „Sheila“ schließt sich uns für ein Stück an, bis sie vom Herrchen zurückgepfiffen wird.
Miri beschließt, mich bis nach Miesbach zu begleiten. Die Beine sind frisch, geradezu ausgeruht. Also geht es weiter. Wieder zurück zum Schliersee. Und in Miesbach gibt es einen Döner. – „Okay, ich will weiter“, sagt Miri. Also ziehen wir das Projekt zusammen durch. Auch mit leeren Stirnlampen und einem Sturz im Perlacher Forst. Wir ziehen es durch und rollen perfekt abgestimmt beim Pepenero neben Miris Haus in Lehel ein und essen Pizza.