Vorgeschichte zu dem Lauf:
Samstag, 12.10.21:
Miri wollte mal 40km vor dem Wettkampf laufen. Also sind wir vom Hotel Casa Chincarini in Nord-Malcesine mit dem Auto nach Castelletto gefahren. Direkt an der Straße abgestellt, Bananenchips, Mangostreifen und Riegel, Stöcker – Stirnlampe? Nur eine. Meine war noch leer und hängt an der Steckdose im Zimmer. Es ist 11.15 Uhr – für die Tour – 40km und 3.000hm – brauchen wir inklusive Pausen mindestens 8 Stunden und kommen damit sicher in die Dunkelheit.
Gleich zu Anfang geht es steil rauf von 70m ü NN bis auf 1.850m in 2 Std, kurze Pause und über den langen Grat des Monte Baldo immer weiter, rauf und wieder runter. Bis Miri auf einem einfachen Weg wieder mit dem linken Fuß umknickt. Sie schreit kurz. Und dann will sie doch weiter. Auf dem Gipfel Cima Valdrisetta (2286m) schnürt sie sich einen dichten Verband um den Fuß. Wir sind erst 18km gelaufen. noch über 20km. Mit dem Fuß? Ja. Sie zieht es durch. Und wir rennen dem Abend entgegen. Immer weiter erschöpft und bald im Dunklen auf schmalen Pfaden bringt uns die kleine Funzel Miris durch den Wald. Die GPS-Geräte unserer Handies zeigen uns sicher an, wo wir sind. Bis mein Handy ausfällt.
Schließlich sehen wir ein, dass wir nur mit einer Lampe zu lange brauchen werden und queren über Stock und Stein zu einer ashpaltierten Zufahrtstraße. Noch immer auf 1.089m Höhe. Weiter müssen wir noch runter – und zwar, das ist ganz gemein – noch 9km auf dieser Straße. Dabei haben wir schon 36km auf der Uhr stehen. Ok. Hilft nichts. Wir joggen langsam runter durch die Nacht. Die Nordostkante des Gardasees vor uns.
Etliche Tausend kleiner Lichter tanzen mit unserem Laufrhythmus mit. Wir unterhalten uns über das Buch „So weit die Füße tragen“ und merken, wie die letzten Allianzen an Adenin-Tri-Phosphat aus unseren Muskeln weichen. An den Einbuchtungen der Straße laufen wir an gedämpften Lichtern von VW-Bussen vorbei. Zähneputzende Gestalten übernachtungssparender Urlauber. Ein kleiner Teil fragt sich, ob sie uns nicht ein Stück runterfahren mögen. Auf Höhe Nago kommen die ersten Lichter entgegen. Nochmal etwas steiler. Und dann: Straßenlaternen, Geräusche, gestutzte, gepflegte Bäume und Gartenzäune. Sichere Zeichen einer nahenden, dichten Zivilisation.
Wir fallen über die Hauptstraße und sogleich senke ich meine Füße in den See.
Miri hat die Woche immer wieder Schmerzen im Fuß, ist sich sehr unsicher – ihr erster Trailwettkampf.
16. / 17.10.:
Wir werden Freitagabend von Astrid mit dem Yeti abgeholt. Es gibt frische Dinkelkörner, Karotten und Paprika-Gemüse und Tofu-Soße zum Abendessen. Das kleine Häuschen in Höslwang ist in den letzten 9 Jahren immer mehr zu Astrids zu Hause geworden. Das eigentliche Haus der Eltern in Wieze (Celle, bei Hannover) steht bald um Verkauf. Und Astrid hat jeden freien Zentimeter mit Schwemmholz, Steinen und Naturkunstwerken ausgestattet. Cäsar, der Kampfschmuser der Nachbarin kommt zu Besuch. Entweder ist er einfach nur süchtig nach Streicheleinheiten, oder er bekommt von der Nachbarin nicht genug. Wir packen die letzten Notwendigkeiten in die Rucksäcke. Die dicke lange Hose oder die dünne? Wir werden öfter während dem Lauf die Maske brauchen – also macht eine Hosentasche Sinn. Am Gardasee habe ich die Straßenlaufschuhe genommen. Jetzt? Bei Matsch und Regen? Soll ich mich dazu entscheiden, endlich mal Schuhe zu nehmen, die dafür gedacht sind? Wieso auch immer. Ich brauche zu fast jeder Berg-Sportart einen Schuh, der eine Stufe weicher ist, als das, was mir von den Beratern verkauft wird. Nun. Morgen wird es rutschig. Also nehme ich meine schwarz-gelben Bushido-Schuhe. Der Weg des Kriegers.
42km. 2.500hm. http://chiemgau-trail-run.de/ Der Wettkampf wurde wegen dem nationalen Lockdown von Mai in den Oktober verschoben. Am heutigen Tag war die Flinkfüßer-Staffel geplant. Es gab nur wenige Anmeldungen. Also habe ich mich dafür entschieden, hier teilzunehmen. Also, zuerst verschoben. Und dann ein früher Wintereinbruch – Schneefall bis auf 900 Meter runter. Zwei Tage zuvor haben die Veranstalter eine Streckenveränderung angekündigt und jetzt – Im Startbereich erzählen sie, dass sie in der vorigen Nacht den höchsten Punkt ein weiteres Mal um 100 Meter niedriger gesetzt haben, um nicht zu tief im Schnee zu landen.
„Hast du deine GPS-Uhr dabei und den Track eingespeichert?“, fragt mich Miri.
„Ne, hab ich bisher noch nie auf Wettkämpfen gebraucht, hab mich noch nie verlaufen.“, schön, das würde sich heute ändern.
Auf der Start- und Zielfläche steht kaum ein Mensch. Alle Läufer stehen mit dicht geschlossener Regenjacke unter den Vordächern am Rand des Platzes. Vor Wettkämpfen kenne ich eine Mischung aus riesiger Anspannung und Vorfreude. Auf der einen Seite ein Gefühl, dass ich Bäume rausreißen könnte, andererseits Ehrfurcht, Angst vor dem großen Ziel für den heutigen Tag.
Wir gehen mit insgesamt 10 Flinkfüßern an den Start. Urmel und Anton sind bereits um 5 Uhr morgens auf die 60km Distanz gestartet, während Imre, Alexis, Max, Martin, Miri und ich nach und nach uns für den gleich folgenden Start sammeln. Auf der Wiese neben dem Startplatz sind farbige Punkt in 1-Meter-Abständen auf dem Boden. Mit Maske reihen wir uns ein und warten gespannt auf die Ansage des frierenden Ansagers.
Alexis ist recht neu bei den Flinkfüßern. Ich habe ihn erst einmal auf einer Tour erlebt. Und ausser, dass er am liebsten mit blauen Lippen zitternd läuft, schätze ich ihn als den stärksten, bzw. schnellsten der Truppe ein. Ich klatsche ihm gegen seine Stöcker, solidarisch, da er, wie ich, nur die billigen 30€ Stöcker von Decathlon hat. Imre sagt, er sei leicht verletzt. Er hat allerdings etliche Kilometer dieses Jahr gesammelt, ich glaube auch, dass er schneller sein wird, als Miri und ich. Martin ist erst vor 4 Wochen Vater geworden – er meint: „ICh durfte heute Nacht auf dem Sofa schlafen. Das waren ganze 6 Stunden Schlaf am Stück!“
Also sind es 42km und 2.500hm. Mein erster längerer Trail-Lauf war der Bad Gastein Ultraks mit 45km und 3.000hm vor 3 Jahren. Damals lief ich das in 7.27 Stunden. 2018 war ich mit Steffi beim Zugspitz-Ultratrail auf der 38km Distanz mit 2.000hm. Damals war es sehr warm und ich hatte morgens einen sehr flüssigen Stuhlgang. Steffi hatte mir damals 17 Minuten abgenommen, ich kam mit 6.30 Stunden ins Ziel. Obwohl es mehr Kilometer und Höhenmeter waren fühle ich mich deutlich fitter. Wenn es gut läuft, wird es unter 6 Stunden sein.
So starten wir. Und bleiben erst einmal zusammen. Nach ein paar Minuten geht der Weg in einen schmalen Pfad über – nur eine Person hat Platz. Imre ist direkt vor mir, Alexis 2 Positionen weiter vorne, Miri hinter mir. Wir sind im ersten Pulk dabei. Etwa 20-30 Leute sind noch vor uns. Es steigt leicht an. Wir laufen und der Puls wir schneller, schwerer. Die Regentropfen prasseln weiterhin auf den Pullover. Für Regenjacke wäre das für mich zu viel Stauwärme.
Langsam aber sicher, setzt sich die Gruppe vorne ab. Imre macht Meter für Meter gut.
Sollen sie ruhig machen. Hier darf ich noch keine Körner lassen.
Doch nach ein paar Minuten trifft der Pfad senkrecht auf einen nach rechts abfallenden Forstweg. Imre ist nicht mehr sichtbar. Das heißt, ich bin der erste in meinem Pulk und gehe – ohne viel zu denken – geradeaus über den Forstweg und folge dem Pfad dahinter weiter nach oben. Die ganzen 20, 30 Mann folgen mir.
Während ich laufen, rufe ich nach hinten: „Ich hab keine Ahnung, ob das richtig ist.“ Und so läuft der Pulk erst einmal weiter. Bis plötzlich doch klar ist, dass wir falsch sind.
Also umdrehen, Miri und ich wollen den steilen Pfad bergab rennen – haben allerdings den Pulk jetzt vor uns – und die sind irgendwie wackelig auf den Beinen. Wir quetschen uns vorbei. Miri ist aufgebracht. Das waren bestimmt 2-3 Minuten, die wir verloren haben.
Schnell den Forstweg runter. Imre und Alexis werden wir wohl nicht mehr sehen. Dafür hängen wir uns an dem nächsten flacheren Anstieg an Martin und Max. „Seid ihr auch falsch gelaufen?“, frage ich Martin.
„Nein, weil ich war letztes Jahr genau an dieser Stelle Streckenposten!“, erwidert er mit einem Grinsen.
Wir versuchen uns von der kleinen Gruppe um Martin und Max abzusetzen, merken allerdings, dass dabei nur der Puls zu sehr steigt. Im ersten richtigen Downhill kommen wir allerdings auf unsere Kosten – fast jeder Läufer ist hier nur ein Hindernis, um das es rumzurennen gilt. Miri sagt, dass ihr Fuß richtig gut sei. Also preschen wir in unserer Königsdisziplin voran.
Eine Frau wird überholt. Ich schätze, dass Miri somit recht weit vorne liegen müsste. „Du bist wahrscheinlich gerade die 3. oder 4. Frau.“ – „Ist mir egal, ich will nur überleben“, entgegnet Miri.
So kommen wir an der ersten Verpflegung vorbei, lassen diese rechts liegen. Trotz des Regens wird es mir in der dicken Jogginghose zu warm. Ich versuche einen kleinen Vorsprung vor Miri zu gewinnen, um dann die Hose auszuziehen. Das klappt nicht. Also sage ich ihr: „Lauf weiter, ich komme nach!“ Und beginne ein Umziehen gegen die Uhr; Im Kopf habe ich mir bereits überlegt, dass es sicher schneller ist, den Reißverschluss am unteren Ende der Hose zu öffnen, und diese dann über die Schuhe zu ziehen, als zunächst die Doppelschleife an beiden Schuhen zu öffnen.
Also: Rucksack runter. Schnaufen, atmen. Kalte Hände – Stöcker an einen Zaun gelehnt. Die Stöcker fallen um. Hose aus. Dabei steige ich einmal voll auf die Hose und klebe Matsch an diese. Läufer um Läufer zieht an mir vorbei. Kurze Hose an. Dicke Hose in die Weste stopfen und los geht es. Jetzt nicht zu schnell rennen. Langsam, aber stetig aufholen. Ein kurzes Flachstück. Dann windet sich der Weg zunächst nach links, um dann wieder nach rechts steil hoch zu gehen. Laufen. Wieder gehen und die Stöcker scharf in den Boden rammen. Bei dem Matsch bleiben die Stöcker beim Herausziehen immer wieder hängen, also gilt es eine eine Stock-Eindringtiefe zu finden, die ökonomisch bleibt. Ich hole Miri gerade so ein, dann:
Zweite Verpflegung. Den Becher aus dem Rucksack. Iso-Getränk rein. Zwei Bananenstücke. Atmen. Beißen, zweimal atmen und weiter. Noch einmal kurz rauf. Dann: Die Rutschpartie bergab. Miri hat eine kürzere Pause gemacht. Also wieder rankämpfen.
Da ist sie. 4 Männer vor ihr. Sie schießt dran vorbei. Ich bleibe etwas länger hinter ihnen, komme nicht vorbei.
Irgendwie auch da vorbei. Matsch. richtig rutschig. Stellenweise weichen die Läufer 10 links und rechts des Weges aus, weil der eigentliche Weg zu rutschig ist. Das ist kein Laufen mehr. Eher ein kontrolliertes Rutschen.
Da ist plötzlich Imre vor mir. Auch an ihm vorbei und wieder an Miri dran. Hart bergab. Forstweg. Steil runter, da können wir richtig ballern. Aber wie schnell, damit wir nachher nochmal rauf können?
Es wird flacher. Ein kleiner, leichter, Forstweg und dann macht es: Knack. Mein rechter Fuß knickt beim Laufen ganz nach außen. Ich setze mich kurz hin. Miri bleibt stehen. „Das geht schon“, sage ich. Und wir laufen weiter. Miris Hintern ist voller Erde. Ihre Hose hat am Knie ein paar Löcher. Sie sei auch schon umgeknickt.
Raus aus dem Wald – auf die Wiese, nah an Miri und – Wuuuusch. Die Hacken beider Füße rutschen gnadenlos nach vorne aus, ich pralle auf den Hintern und rutsche weiter, bis ich auf den Rücken pralle, mir die Luft weg bleibt und ich liegen bleibe. Eine, zwei Sekunden. Atmen. Okay. Da ist alles gut. Also geht es wieder weiter. Abwärts bis zum Ort Marquardtstein. Eine Frau läuft an uns heran. Imre läuft auch heran. So geht es zum Start-Zielbereich. 21km, 1200hm. Die Hälfte ist vorbei. 2h40 bis hierher. Iga, die blonde Frau in schwarzer Kleidung, läuft direkt weiter, holt sich weder was zu Essen, noch was zu trinken. Es gibt Orangenschnitze, Bananen, Tomaten, Getränke. Mein ganzes System wird überrannt: Von links läuft gerade ein bekanntes Gesicht durch den Torbogen. „Platz 15, Anton Schäfer in 6h42“ – Ich schaue herüber, stopfe mir währenddessen ein Stück Birne in den Mund. Becher auffüllen.
Miri: „Ich gehe gleich weiter, die Frau ist schon weg!“ – „Ok“, entgegne ich Miri. „Kartoffelsuppe“ höre ich von irgendwo sagen und sehe Imre mit einem zutiefsten Grinsen.
Im Augenwinkel sehe ich, wie Miri um den Start-/Zieltorbogen aussen herum läuft. Bei den Zuschauern entlang. Mein Blick wandert zu der Zeitschleife am Boden. Miri ist weit links davon. Ich renne drei Schritte von der Verpflegungsstation weg und versuche zu schreien – es kommt allerdings nichts heraus, da mein Mund voller Bananen-Birne-Kuchensalat ist. Miri ist noch 20 Meter von der Straßenecke entfernt. Ich kaue und kaue vor mich hin. Schlucke und hole dann tief Luft, um „MIIIIIRRRRRRIIIIII“ zu schreien. Die Augen des ganzen Platzes sind auf mich gerichtet. Dann dreht auch sie sich um:
„Du musst durch die Zeitschleife laufen!“ – Ich schnappe mir Becher und Stöcker und renne hinterher, erkläre ihr das – sie wieder zurück.
Dann: links um die Kurve und gleich steil eine asphaltierte Straße hoch. Mein Puls ist hoch. Miris auch.
„Wir holen Iga nicht am Anstieg ein… Uff… Sie hat jetzt ca. 3 Minuten Vorsprung. Wenn sie den nicht ausbaut, kriegen wir sie am Downhill und du kannst noch 3. werden!“
Also gehen wir den Anstieg langsam an.
Wir werden immer wieder von den „grünen“ überholt. Diejenigen, die „nur“ die 21km Strecke sprinten. Vor uns: Die Gazelle. Ein Mann mit sehr langen Beinen stapft unentwegt und ohne Stöcke den Anstieg rauf. Wir quetschen uns nen Riegel rein und stapfen weiter. „Der hat ein gutes Tempo. Nicht vorbei. Ranbeißen. Weiter“, hechel ich Miri zu. Miri ist immer noch sehr gut drauf.
Ich rufe jedem „grünen“-Sprinter zu: „Ja, auf gehts, komm schon! Allez, Allez!“
Schneematsch am Hochgernhaus. Wir nähern uns der 30km-Marke. Miri hat mich um ein paar Meter abgehängt. Ich renne hinter, brauche 2-3 Sekunden, um meinen Pullover wieder zuzumachen. Und fühle, dass meine Beine das runterrennen nicht mehr ganz so mitmachen. Wieder steiler Forstweg runter. Wir holen immer wieder welche von der Langstrecke (60km) ein, dann kommt von hinten ein Sprinter ran. Schließlich hänge ich mich an einen ran, ignoriere die steifen Beine. So komme ich wieder an Miri ran und dann – ohne Vorwarnung geht es gleich wieder in einen Anstieg. Wo bleibt die Verpflegungsstation? Hunger. Durst.
Unentwegt und brachial ramme ich die Stöcker in den Kies. Mein linker Trizeps meldet leichte Vorkrämpfe an. Das Herz pumpt aber gut. Also laufe ich die paar Meter an Miri ran.
Da kommt die letzte Verpflegung. Miri kommt als erste einer Gruppe ran und schnappt sich nur 2 Riegel-Stücke. Ich bitte die nette Verpflegungsdame, meinen Becher rauszuholen. „Iso“, und sie macht den ganzen Becher voll. Ein Schluck und Miri ist schon weg. Also auch nur einen Doppelkeks. Ich kippe den Rest aus dem Becher weg und laufe Miri hinterher. Der Becher noch in der linken Hand. Beim Einfädeln der Stöcke merke ich, dass das mit dem Becher nicht klappt. Bis ich den Rucksack ausgezogen und den Becher befestigt habe, vergehen bestimmt 30 Sekunden.
Es läuft ein Sprinter von hinten ran:
„Kannst du mir den Becher befestigen?“, frage ich ihn. Er hilft mir. Und ich sage ihm nur: „Ich bin Marathoni, muss weiter.“ So versuche ich noch ein letztes Mal Tempo zu machen, um auf Miri aufzuholen. Ich sehe sie, etwa 400 Meter vor mir. Direkt hinter ihr ist die blonde Frau – Iga. Ich kann es kaum glauben. Und sehe damit auch das Zielglück mit Miri schwinden. Wenn die beiden sich jetzt um Platz 3 bekämpfen werden da nochmal andere Kräfte wach.
Mein Sprinter-Kumpel läuft wieder an mich ran, überholt mich. Ich werde kurz schwächer, gehe wieder langsamer und reguliere meinen Atem. Das müsste hier der letzte Anstieg sein.
Langsam, ganz langsam kündigen sich Krämpfe im oberen Rand der Wadeln an. Nein. So weit kommt es diesmal nicht. Die Erinnerung an den ZUT 2018 wird wach, als ich im letzten Downhill mehrere Male wegen Krämpfen anhalten musste.
Die beste Verteidigung ist der Angriff. Also wieder ein bisschen aggressiver die Stöcke in den Boden. So komme ich an den Sprinter-Kumpel wieder heran. Und ziehe auch direkt wieder an ihm vorbei. Ich sehe, wie Iga etwa 20 Meter hinter Miri ist und sich langsam, aber stetig an sie herankämpft. Miri dreht immer wieder den Kopf und fällt dann wieder in einen 10-metrigen Laufschritt, um sich wieder etwas von Iga abzusetzen. Der Kampf ist so schön anzuschauen. Iga läuft auch wieder ein paar Schritte.
Langsam aber sicher kämpfe ich mich an die beiden Damen heran. Ich feuere auch Iga noch mit einem „Auf gehts, geht schon“ an.
Rufe dann Miri zu: „Okay, Miri, bin da.“
Und so geht es die letzten Meter bergauf. Miri rettet sich 30 Meter Vorsprung, als es schließlich ganz flach wird. Wir verfallen in einen langsam Laufschritt. Der Pfad windet sich kurz herab, um dann noch einmal wenige Meter anzusteigen.
Hinter der nächsten Kurve ist laute Musik zu vernehmen – und dann taucht sie auch:
Die Schnappkapelle. Dort stehen wilde Gestalten davor und tanzen in bunten Kostümen um uns herum. Ein urtümliches Gänsehaut-Gefühl durchfährt mich. Ich recke die Arme nach oben und lächle ein letztes gequältes Mal. Dann geht es in den letzten Downhill. Miri steigt gnadenlos ein und ist nach 30 Sekunden bereits davon gezogen. Meine steifen Beine brauchen ein paar Sekunden, um sich daran zu gewöhnen. Doch dann, allmählich spüre ich den Waldboden, spüre, wie die harten Aufpraller meiner Füße in eine Fließbewegung übergehen und merke, wie ich schneller werde und auch schneller werden will.
Ich überhole die ersten Läufer. „Wie könnt ihr denn jetzt noch so schnell sein?“, bekomme ich zu hören.
Ich rutsche, hüpfe, fliege den Downhill runter und sehe Miri 2 Serpentinen vor mir ebenfalls fliegen. Und dann macht es wieder „Knack“. „aaaaarggh“, mache ich. „Jetzt ist es aus…“, sage ich noch, während der erste Läufer an mir vorbei zischt. Wut steigt in mir hoch. Nein. So, geht es jetzt nicht vorbei. Der Schmerz zischt meinen rechten Fuß nach oben. Mein ganzer Körper wallt vor Adrenalin.
Also brülle ich noch einmal. Und renne weiter.
Hohe Schrittfrequenz, Auflagefläche antizipieren und dann hoffen, dass man trifft und diese auch hält. Da eine schmale Steinkante, da eine matschige Wurzel, Stein, Tannennadeln, Blätter, und links am Weg vorbei, abspringen, und wieder an dem Kerl vorbei, der mich gerade überholt hat. Miri ruft nach oben: „ISt alles okay bei dir, Marian?“
„Jaaaa,“ rufe ich. „Bin nochmal umgeknickt. Habe Schmerzen, ich laufe weiter.“
Der Typ, den ich gerade überholt habe, ruft mir hinterher: „Du hast sicher keine Schmerzen, so wie du läufst!“

„HA, entgegne ich. Deswegen laufe ich auch so langsam, weißt du ;)“, und so geht es weiter bergab. Ich verfalle in Stoßatmung, versuche, den Schmerzüberdruck wegzuatmen und merke, wie das funktioniert. Ich rolle den bergab hinab und weiß ganz genau, dass es mich hier jede Sekunde richtig auf die Fresse hauen kann. Doch es passiert nicht. Wieder und wieder an Läufern vorbei. Und da schließlich: Miri.
Letzter Forstweg. Weiter runter. Nochmal Gas geben. Doch die Beine sind steif. Doch da sehe ich, dass die Häuser Marquardtsteins nicht mehr weit unter uns sind. Höchstens noch 50 Meter, da sind wir ja fast unten!
Doch ganz unten folgt noch einmal ein kurzer Anstieg. In den flitzt Miri hinein und meine Gummibeine geben fast nach. Über den letzten Hügel und raus aus dem Wald. Über eine Straße und dann eine riesige Wiese, auf der die humpelnden Matschmonster Richtung Marquardtstein wandern. 1km, 2km noch? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass Miri ca. 100 Meter Vorsprung vor mir hat. Und, dass ich Iga schon lange nicht mehr hinter mir gesehen habe. Und, dass meine beiden Oberschenkel auf der Innenseite sich bei jedem Schritt wie kurz vor einem Krampf anfühlen. Und, dass ich mir wünsche, dass wir gemeinsam ins Ziel laufen. Miri dreht sich immer wieder. Und ich sehe, dass sie um ein zwei Mü langsamer wird. Bevor ich allerdings rankomme, ziehen noch einmal 3 Sprinter-Herren vorbei. Schließlich sind wir nebeneinander. Und die Kraft kommt langsam zurück. Diesen Kilometer schaffen wir jetzt auch noch.
Die Treppe rauf, nach rechts und da ist das Ziel. 5h36. Miri rettet sich mit 67 Sekunden vor Iga den 3. Platz der Damen.
