Tag 35, 36 und 37: Istanbul, Istanbul, München
Ich könnte jetzt sagen, es ist nicht viel passiert. Ich könnte jetzt sagen: An diesen Tagen bin ich kein Fahrrad gefahren. (Auch das stimmt nicht, vom ZOB bis zur Miri waren es noch 3km) Und trotzdem ist sehr viel passiert. Wie das Zitat aus meinem Lieblingsfilm „Peaceful Warrior“: Es ist niemals nichts los.“ Und meine Weiterführung: In jedem einzelnen Moment versteckt sich ein ganzes Kunstwerk – wenn du, der Betrachter, es dazu macht.
Spaziergänge mit Kuku durch den Stadtteil. Angst vor weiterem Entfernen. Angst vor dem Kuddelmuddel dieser riesigen Stadt.
Yusuf hat keinen Extraschlüssel für die Wohnung – er selbst geht ins Büro. Ich bleibe bis mittags drinnen und ziehe dann mit Kuku los. Wir finden eine steile Straße, die sich mit 27% Steigung über 250m zwischen Häusern durchschlängelt. Dort gibt es ein kleines Kuku vs. Marian-Rennen, dass ich sogar gewinne, da Kuku keine Lust hat, bei diesen Temperaturen schnell zu gehen.
Dann fröne ich wieder meiner Cola-Sucht, setze mich in den Schatten einer Umrandungsmauer eines Parks und beobachte Kinder beim Fussballspielen. Als sie Kuku entdecken, werde ich immer wieder umringt, während der Ball links und rechts von mir in die Mauer kracht. Die Jungs wollen sie zum mitspielen animieren. Kuku rennt tatsächlich teilweise dem Ball und teilweise auch einfach nur parallel zur Mauer. Ein Junge im grünen Pullover kommt immer wieder grinsend und die Hand über Kukus Kopf haltend zu ihr. So klappt es allerdings nicht – statt, dass Kuku ruhig bleibt, verfolgt sie die Hand immer mit dem Kopf. Wodurch der Junge, der einfach nur ihr Schnappen verhindern will, zögerlich die Hand wieder zurücknimmt. Auch wenn ein Hund schlechte Augen hat – er will die Hand sehen, oder riechen. Wenn man einen Hund streicheln will – entweder ganz von vorne kommen oder so weit über und hinter dem Kopf, dass die Hand gar nicht erst gesehen wird.
Ich bin angekommen. Und weiß nun nicht weiter. Soll ich ein paar Tage bleiben? Es zieht mich zurück. Zurück nach München. Es entsteht eine Geschichte in meinem Kopf: Hier (in Istanbul) bekomme ich keine Ruhe. Das liegt zum einen daran, dass ich Kuku größtenteils auf den Balkon sperren soll. Und zum zweiten, dass ich mich mit der Quarantäne unsicher fühle. Darf ich überhaupt raus?
Es ist Freitagnacht, 30. April, Nein, viel mehr Samstag früh – ca. 03:00 Uhr. In mir ringen 2 großartige Vorstellungen von den folgenden Tagen: die sanfte und zugleich bitterfrühe Heimkehr und Wärme und körperliche Nähe zur Miria – gegen einen weiteren Aufenthalt, 3 Tage warten, 3 Tage Ruhe, nach der ich mich innerlich sehne. Zugleich fühle ich mich eingesperrt. Eingesperrt in meiner persönlichen Quarantäne und zugleich der Lockdown für die Einheimischen. Ich versuche zum x-ten Mal einen Besuch der Hagia Sofia, einen Sightseeing-Spaziergang in der Innenstadt zu visualisieren. Versuche mir vorzustellen, wie ich den Rest der Zeit in Ruhe verbringe. Doch die – in meinem Kopf sonnigen – Bilder werden von einer Angst verzerrt, die ich kaum beschreiben kann. Ich weiß nur eines: Diese Entscheidung fühlt sich wichtig an. Ich gehe zu Yusuf, der gerade sein Ramadan-Nachtmahl einnimmt und erkläre ihm, dass ich erst in 3 Tagen fahren werde. Dann lege ich mich wieder ins Bett. Und ringe weiter. Ich fahre meine Wut hoch, stelle mir vor, wie ich den anderen möglichen Weg abschneide – und kann es nicht. Wieder ringe ich und schließlich entscheide ich mich für die Rückkehr.
Es ist Sonntag früh, circa 06 Uhr. Ich sitze mit eingeklappten Knien vor der Schlafkoje für die Busfahrer. Darin steht eine grün-schwarze Box mit einem Gitter aus Plastik. Durch meine von Schlafsand verklebten Augen dringen ein, zwei, Tränen – in mir fühle ich eine bittersüße Traurigkeit: Kuku kratzt und beißt am Gitter. Wieder habe ich sie in die Box gesetzt. Nach einem weiteren Spezialtürkischen Restaurant mitten im Nirgendwo im südlichen Ungarn. Ich stelle mich auf meine wackligen, unsicheren Beine – ist das wirklich okay für den Hund? – lege meine Hand auf die weiße, metallene Klappe und haue sie zu. Ich zucke zusammen und stelle mir vor, wie Kuku dahinter zusammenzuckt.
Ich drehe mich um und beobachte die Raucher. Sie stehen verteilt um den Bus. Noch einmal soviel schloten wie möglich. Denn im Bus dürfen sie ja nur einzeln nacheinander. Noch verstehe ich nicht. Noch baut sich ein von Ungnade in subtilen Hass wandelndes Gefühl in mir auf, weil ich nichts weiß. Weil ich mir die Geschichte erzähle, dass das hier ein Teil der vielen Türken in Deutschland sind, die sich weigern, kulturelle Gegebenheiten im Ausland auch nur auf einer Busfahrt anzunehmen. Stattdessen frühstücken sie in Bulgarien, Ungarn und später Österreich an 10 Kilometer von der Autobahn entfernten Gaststätten mit Chai und wabbligem Brot.
Warum ich wütend bin? Weil ich mich nicht unterhalten kann mit ihnen. Und weil mein Nebensitzer, den mir Ahmed mit „Er spricht sehr gut deutsch.“ Vorgestellt hat, genausoviel spricht, wie das wabblige Brot: nämlich gar nichts. Und, weil 30 Stunden Bus fahren per se eine Qual für den ganzen menschlichen Organismus ist. Und, weil ich gigantische Angst um Kuku habe, da projiziere ich jeden Meter Umweg auf die ganzen anderen Insassen und, da ich sie nicht verstehe, zudem auf ihre Sprache und ihr Volk. Schließlich bin ich mir unsicher, ob ich die richtige Entscheidung mit der Rückfahrt getroffen habe und wälze das am besten auch noch auf die anderen ab.
Sinnvoll? Weiß ich nicht.
An der deutschen Grenze stehen wir sehr lange. 2 Menschlein stehen noch an der Passkontrolle. Als der türkisch-amerikanische Teppichhändler als letzter in den Bus steigt, erklärt er mit einem Lächeln:
„I had 10.000 € cash with me. So they searched. And asked whether I got more.“
Graue Haare und eine eher rötliche Bräune im Gesicht, zudem eine warme, weichere Art. Von ihm erfahre ich, dass fast alle anderen Insassen LKW-Fahrer sind. Da wird mir einiges klar: Das viele Gerauche, die wortkargen Charakter.
Eineinhalb Stunden später stehe ich in München am ZOB. Und da steht sie plötzlich vor mir. Viel schneller, als ich es wollte, packe ich sie und hebe sie hoch. Miria. Da bin ich wieder zu Hause.
Wie es weiter geht? – Das entscheide ich später.



Hallo Marian,
welcome home – und vielen lieben Dank, daß Du Deine Reise so wunderbar beschrieben hast; danke, daß ich (und viele Andere wahrscheinlich), daran teilnehmen durften.
Es „menschelte“ und „warmherzelte“ zwischen jeder Zeile.
Viele Grüße
Bea Hull
München
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