Agent of faith

Blogeintrag, 16. November, es ist gerade 11.12 Uhr.

Links neben mir auf dem S Bahn-Polstersitz steht eine Flasche Africola mit einem Restinhalt von etwa 80 Millilitern. Wenn ich eine leere Flasche durch die Handgepäckkontrolle schleuse, kann ich sie danach auf der Toilette auffüllen und habe das für mich wichtigste auf einem Flug: Leitungswasser.

Es geht weiter. Zunächst „beame“ ich mich nach Istanbul und zwar an den östlichsten Punkt an dem ich meine bisherige Reise unterbrochen habe: Yusufs Wohnung. Wenn ich die Augen schließe, bekomme ich Gänsehaut. Die Erlebnisse der letzten 8 Wochen waren alles andere als subtil. Eine Trennung nach der ich über mehrere Wochen schreiend und weinend schlaflos im Bett lag. Oder: eine Trennung, die dafür gesorgt hat, dass ich meine Traurigkeit ersterne. Ich kann Traurigkeit mittlerweile in homöopathischen Dosen und Nuancen wahrnehmen. An mir, an anderen. Ich habe an 3 aufeinanderfolgenden Tagen insgesamt 17 Menschen angesprochen, bei denen ich vom Hinschauen ein ähnliches Gefühl gespürt habe, wie das, was ich in mir trage und siehe da: alle 17 waren gerade erst getrennt oder steckten noch mitten in einer Trennungsphase. Ich bin in diesen Wochen ein Meister geworden, im Hin spüren auf Impulse in der Außenwelt. Habe Kontakte geknüpft und gleichzeitig meinen Wunsch nach Ruhe – und vor allem den Wunsch nach „keine Frauen“ – missachtet und nahezu pervertiert. Ich lag im Bett mit einer anderen Frau und musste erkennen, dass ich vor Traurigkeit sexuell gar nicht funktioniere, bzw. Gar nicht richtig will.

Schließlich habe ich mich so gnadenlos und Hals über Kopf in eine andere Frau verliebt, dass ich mich kurzzeitig wieder selbst verloren habe. Mitnichten, diese Frau war auch gerade erst getrennt und wie Gabi im Hugendubel, mit der ich mich darüber unterhalten habe, sagte: „das ist eine tickende Zeitbombe.“ Ja. Ich habe dieser Bombe die Zündschnur verkürzt, indem ich ihr noch einen Brief geschrieben habe, den Stefan so schön mit „GefühlswatschnSbahnüberfahrung“ umschrieben hat. Wenn ich mich einem Menschen gegenüber öffne, sprudelt alles aus mir heraus. Und in diesem Fall war das wohl zu viel. Kontaktabbruch. Das ist aber eine andere Geschichte, die ich an einem anderen Ort erzählen werde.

Ich habe eine Abschiedsfeier mit 15 Leuten gefeiert, bei der ich selbst so beeindruckt über die durchgehende Schönheit aller Gäste war. Dabei habe ich über die Hälfte davon erst seit einem Monat gekannt. Es passiert soviel, dass ich mit dem Aufschreiben kaum hinterher komme. Zum Beispiel stand ich mitten in der Nacht an der Boschetsrieder Straße – gehe mit meinem Hund nach Hause und singe „Misty mountains“. Dabei dreht sich eine Frau zu mir – ich spreche sie an und sie zieht aus ihrer Tasche den Hobbit. Auch wiederum eine Geschichte, die woanders erzählt gehört.

Wenn ich aber davon eines mitgeben will, dann soviel:

Wer offenen Auges durch sie Welt geht und seine inneren Gefühle kennt, wird so viele Hinweise und Zufälle entdecken, das die Welt als ein einziges Wunderwerk erfahren werden kann.

Es sind 2 Stunden vergangen. Ich sitze im Bus am Gate, darauf wartend, dass wir zum Flugzeug gefahren werden. Das schreiende Kind hinter mir wurde leiser. Eine Frau in einem blauen Mantel hat meine Frage, ob sie einen Sitzplatz braucht zunächst verneint und sich eine Minute später doch hingesetzt. Der Mann im braunen Pullover schräg gegenüber sitzt schweigend vor seinem Handy.

Ein weinendes Kind löst einen Urreflex aus. Schreien und Weinen gehört still gestellt. Oder: es muss was getan werden, damit das Kind nicht mehr leidet. Dieser Urreflex wurde aus meiner Sicht über tausende Generationen in uns eingraviert. Weil irgendwann irgendjemand definiert hat, dass Wut, Angst und Traurigkeit schlechte Gefühle sind, die vermieden gehören. Ich sehe es als die größte Aufgabe unserer Generation an, dieses Framing zu ändern und das Experiment zu wagen: wie kann diese Welt sein, wenn Kinder bereits die Fähigkeit bekommen, sich mit ihren Gefühlen zu akzeptieren, zu lernen: hey, ich habe Gefühle. Und das erst einmal umgewertet annehmen.

So. Zurück zu meiner Reise.

Dieses Mal ist es anders. Rein logistisch fahre ich mit dem Rennrad. Fahre mit einem Fahrzeug, das nicht so viel Gepäck zulässt. Mein geliebtes Bergamont wurde im August geklaut.

Bis 15 Minuten vor der Abfahrt hatte ich nicht entschieden, ob ich zu dem Ortlieb Seatpack sowie Ortlieb handle bar pack einen kleinen oder Großen Rucksack nehme. Es wurde der große Rucksack. So geht es von Istanbul in den nächsten 4 Wochen nach Tiflis.

Es ist 15.54 Uhr nach deutscher Zeit. Gerade hat der Pilot durchgesagt, dass wir in die Landephase übergehen.

Links neben mir sitzt Aybüke. Eine Frau, die Dave Eggers „the circle“ auf ihrem Schoss liegen hatte. Als ich eingestiegen bin, habe ich sie darauf angesprochen und sie hat gesagt:

„Usually I read only nonfiction for utility.“ Darauf habe ich mit einer Rückfrage „What utility has life?“ Reagiert. Und daraufhin hat sich ein einstündiges Gespräch ergeben, das von Stoizismus, Gefühlsarbeit bis hin zu ihrer riesigen Sammlung an Zitaten reichte, die sie im Handy gespeichert hat.

„This encpounter is fated.“ Hat sie gesagt. Ja. Ich bin mal wieder Baff über das Universum.

„If you want guarantees in your life, then you dont want life. You want rehearsal of a script that’s already been written.“ – Neale Donald Walsh.

So lautet eines ihrer 141 Zitate und ich bin erstens beeindruckt darüber, weil diese Zitate passend für einige Blogeinträge oder die Kapitel meines Buches stehen und zweitens, weil Aybüke ganz deutlich darüber gesprochen hat, dass sie eigentlich so lebt:

„It’s like you are standing at the edge of the ocean. When I dont have a certain goal, I will never set sail.“

Das heißt ihre Lebensweise widerspricht sich sehr gegenüber den Zitaten, die sie aufschreibt. Und das finde ich sehr übertragbar auf einige Menschen dieser Welt.

„Concept of safety.“

Druck auf den Ohren. Die Schleier des Schlafes verfliegen.

Als es zum Aussteigen geht, lasse ich Aybüke lesen, was ich über sie geschrieben habe.

„Wow. You really got potential.“

„I mean this discussion with you was abnormal. You are one of the most outstanding people I met the last weeks.“

„Thank you.“, sagt sie. „And you are a agent of faith.“

Jetzt habe ich einen Namen.

„You know why? This quote you picked to write down is the one I think and feel of the most.“

Wir steigen aus. Eine kurze, flüchtige Umarmung. Und dann trete ich ein in eine andere Welt.

Der große Karton am Spezialgepäck hat ein paar Löcher bekommen. Haben die Gepäckträger die Löcher reingestochen, um den Karton besser transportieren zu können?

Yusuf hat gesagt, ich soll nach Havabus schauen. Hinter dem Taxistand stehen viele Busse. Ein hilfreicher, schlanker Mann sagt: der zweite Bus rechts. Vollkommen überfordert bleibt mir nur eines: Vertrauen. Yusuf hat nur gesagt, dass er mich an Taksim station. Ohne türkische Simkarte kann er mich weder anrufen, noch mir genauer schreiben.

Am Bus stehen mehrere Busfahrer und ein junger Mann will mir das Fahrrad abnehmen. Er deutet an, dass er eine Runde auf dem Parkplatz herumrollen will. Seine überschwängliche Freude schwappt über – doch die Reifen haben gar keine Luft wegen dem Flug. Naja. Auch egal. Er rollt lachend dreimal im Kreis. Dann landet das Rad etwas ruppig im Kofferraum des Busses.

3 Euro kostet die Fahrt ins Zentrum. Während der Fahrt fühlt sich mein Körper „nicht gut“ an. Was für Symptome? Was ist genau los? Ich weiß es nicht und schließe für eine Weile die Augen. Die Unsicherheit, ob Yusuf mich abholen wird kombiniert sich mit einem großen Hunger. Seit dem Frühstück habe ich nichts richtiges gegessen.

Mit geschlossenen Augen atme ich und erinnere mich an den Moment am Spezialgepäck, bei dem ich an Aybükes Zitat denken musste:

Was passiert, wenn mein Rennrad aus unerfindlichen Gründen nicht auftaucht? Dann mache ich eben etwas anderes. Ich bin der „Agent of faith“. Meine Aufgabe ist es, zu Vertrauen.

Also: wenn Yusuf mich nicht abholt, dann passiert eben etwas anderes.

Jetzt liege ich mit überhitztem Kopf in Yusufs Wohnzimmer. Zunächst habe ich am Busankunftsort Taksim im istanbulischen Wind gefroren. Direkt gegenüber vom Bushalt war ein Turkcell Laden. Also habe ich mich mal wieder vom mächtigen Mobiledaten Netzwerk breitschlagen lassen: eine neue Simkarte mit 15gb Volumen. Weniger gab es nicht.

100 Meter entfernt: ein wuselnder Dönerstand und mein ganzes System schaltete erstmal auf Überlebensmodus: nicht wahrnehmen, nicht fühlen, sondern: essen. Okraschoten in Tomatensoße, Spinat, Reisund in Weinblätter eingelegter Reis. Dazu eine Cola und das ganze gibt es für 7 Euro. In meinem Mund explodieren die Geschmacksnerven. Ich bin dankbar für diesen Luxus. Ich werde angesprochen, woher ich bin und was ich mit dem Rennrad mache.

Etwas später komme ich in Yusufs Straße. Die Erinnerungen brechen über mich herein: Kuku hier, angebunden unten an der Straße, die spielenden Kinder um sie herum.

Ich trage das Rennrad in den 4. Stock und werde von der Hitze erschlagen. Die Wohnung ist auf 25 Grad aufgeheizt. Das ist für mich fast Todeszone. Viel zu warm.

Ich versuche mich daran zu gewöhnen.

Yusuf hat sofort einen Freund organisiert: Yazir – der mit Yusuf zusammen 2013 bei mir in München übernachtet hat. Nach der Frage, wo meine Freundin ist, versuchen sie mir über mehrere Ecken eine Sportwissenschaftlerin aus Antalya anzudrehen, die unbedingt deutsch und englisch lernen will und ihren Master in Deutschland machen will.

Schließlich gibt es noch ein ganz spezielles Getränk, dass sich in dunklem Rot präsentiert:

Şalgam. Laut der Aufschrift „fermented black carrot juice“. (Was auch immer schwarze Karotten sein solle n) – es schmeckt wie ein scharfer, sehr salziger rote Beete Saft, von dem Yusuf 2 Gläser runter trinkt, während ich nach einer Stunde noch immer an meinem ersten Glas nippe.

Der erste Tag ist vorbei. Ich bin unendlich dankbar. Das Abenteuer beginnt bereits, bevor ich losgefahren bin. Und die vielen, vielen Details bin ich gar nicht fähig, aufzuschreiben.

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