„The kids arent alright“. Istanbul, Tag 1

Es ist der 17. November,
halb neun nach türkischer Zeit. Ich sitze im Bambi Cafe, eine Burger-Dürüm-Kette mit einem interessanten Eigenwerbungs-Comic an der Wand. Auf dem Bild ist der Taksim-Platz zu sehen und verschiedene Personen fragen nach dem Bambi Cafe oder sprechen darüber. Schöne Aufmachung. Doch nach einer Portion Pommes und einem „Vejetarijan Dürüm“ ist mein Geschmacksapparat etwas unbefriedigt. Wie beschreibt man diesen seichten Klang an saurem Geschmack, der anzeigt, dass die Zutaten nicht sehr frisch waren? Manchmal glaube ich, dass ich Histamine herausschmecken kann.

Ich habe ein Ziel und eine neu gewählte Route: Bodrum, eine wunderschöne Stadt am südwestlichsten Ende der Türkei. Es ist viel wärmer am Mittelmeer.
Der Gedanke, gleich nach Osten am Schwarzen Meer entlang zu rasen mit Kilometer und Kilometer jeden Tag erwuchs der Vorstellung, es einer gewissen Frau beweisen zu wollen, dass ich doch ein Extremsportler bin.
Jetzt sitze ich allerdings hier und geniesse diese verrückte, laute und mich überwältigende, unbekannte Welt. Der Abstecher nach Bodrum würde eine Verlängerung meiner Route bis nach Tiflis um etwa 1.300km bedeuten – damit insgesamt 3.300km. Das in 20-25 Tagen. Ist das das, was ich will? Nein. Ich liebe den Klang dieser lieblichen orientalischen Musik genau jetzt in meinen Ohren.
Also gibt es einen Bus bis nach Izmir und von dort aus die Küste nach Süden.

Ich war gerade in „Istanbul boulder“. Ein länglicher Boulderraum nach ganz alter Schule auf der anatolischen Seite Istanbuls direkt am Hafen Kadiköys. Mit alter Schule meine ich bouldern, so wie es entstanden ist:
Schmutzige Räume mit Pressspanwänden und scheinbar wahllos in die Wand gedrehte Plastikgriffe mit dem einzigen Zweck im Winter einen Trainingsraum für den Fels zu haben.

Bis dahin hatte ich Maria, eine Sängerin aus Russland am Topikapi kennengelernt und Kilian aus dem Radreiseforum am Galata-Turm getroffen.

Der Tag begann zuerst mit einer logistischen Fehlüberlegung: beim Packen meiner Tagesutensilien liess ich mein kleines Multitool bei Yusuf in der Wohnung. Etwa 3 km weiter südlich und bestimmt 100 Höhenmeter abwärts später hatte sich der rechte Bremsschuh meiner Mini V-Brake vorne gelöst. Das ergab bei einer Abfahrt mit plötzlichen 15% ein ekelhaftes Rattern und Kratzen. Ok. Die Vorderbremse nicht mehr bedienen. Rad zum Stehen bringen. Ich schaue mir das Desaster an und lasse einen kurzen Gedanken an: wenn sich der Bremsschuh jetzt verkeilt hätte… zu und mir ist klar, dass das überaus grossen Kopfschmerzen in einem dieser vielen schönen Krankenhäuser geendet hätte. Mit etwas Unglück wäre der – sehr wahrscheinlich telefonierende – Lieferwagenfahrer eher über mich statt aussenherum gerollt. In diesem Gedanken taucht auch ein wenig Wut über die durchaus überhöhte Rechnung der Fahrradwerkstätte auf, bei der ich mein Rennrad zuvor hatte überholen lassen. War der lockere Bremsschuh durch deren Unachtsamkeit bedingt oder konnte er sich bei der Verdrehung meines Lenkers für den Flug durch Spannung auf den Bremszug gelöst haben? Wichtigere Frage: Ist das jetzt wichtig? Nein. Also nutze ich die Wut, um ein Fahrradgeschäft zu finden. Da ich das Multitool zu Hause liegen habe, habe ich nicht einmal so etwas einfaches wie einen Inbusschlüssel dabei.
Ich finde einen Laden in der Nähe. Auch das Rollen mit dem Rad erweist dich bald als schlechte Idee – selbst hier verkeilt sich der Bremsschuh.
Der Fahrradladen wurde wortwörtlich dem Erdboden gleich gemacht – hier steht kein Haus mehr. Zunächst versuche ich es bei einer Schlosserei, die leider geschlossen hat. Ein Baumarkt – tornavida, also Schraubendreher versteht der ältere Mann noch. Mit allan anahtari, also Inbusschlüssel ist er überfragt. Gut. Dann eben ein Motorradladen. Hier wird mir schnell geholfen.

Der kurze Abstecher lässt mich an einem interessanten Schauspiel vorbeifahren:
Ein Mann schweisst mit blanken Augen eine Eisenstange an das Fussgestell eines grossen Obstladens dran. Nicht nur, das der Obstladen voll beladen ist. Nein, hinter ihm rollen nur einen halben Meter entfernt die Autos vorbei.
Während ich hiervon Fotos mache, komme ich mir etwas zu dreist vor und ziehe nach einem mehr schlecht als rechten Foto den Rückzug vor.

Etwa eine Stunde vor dem geplanten Mittagessen mit Kilian beschliesse ich, den Topikapi zu besuchen – was auch immer das ist. Ich bin wahrlich ein Kulturbanause – viel mehr aber an der Kuktur und den Menschen auf der Strasse interessiert. Und ehrlich gesagt überfordert mich bereits hier die nicht zu überhörende Lautstärke dieser Stadt. Überall fährt, rumpelt und hupt es. Wer Ruhe sucht, sollte woanders hingehen.

10 Klimmzüge an einem Outdoor-Trainingspark und einer dieser Spezial-Istanbul-Radwege später (sie beginnen an einen Wand und enden 100m später an einer Wand. Siehe Tag X) rolle ich über die Galata Brücke. Hier stehen hunderte Angler an der Balustrade.
Hinter der Brücke links und nach rechts hoch in die Parkanlage. Ich rolle an einer Frau in lilaner Daunenjacke mit Mütze vorbei. Sie schaut mich kurz an und lächelt. Ist das ein Impuls oder nicht? Ich erinnere mich daran, wie ich vor ein paar Tagen das Voice-Battle zwischen Ann-Sophie, Jennifer und Archipel angeschaut habe und ihm gesagt habe:
„Ich werde mich mit nichts weniger zufrieden geben.“ Das hatte ich gesagt, weil wir beide Ann-Sophies Ausstrahlung und Gesang gigantisch empfanden. Stefan fand sie zudem sehr attraktiv, während ich für mich beschlossen habe, solange auf dieser Welt zu wandeln, bis ich eine Frau finde, die mich einfach vollkommen umhaut.
Und irgendetwas davon hatte diese Frau.
Also drehte ich um. Sprach sie an. Was für Augen. Türkis-grau-orange melliert.
Maria. Aus Russland. Ihr englisch sei schlecht. Doch irgendwie unterhalten wir uns. Wiedermal bin ich dankbar über Darias Satz:
„Sto ti sivodnja ovidiel, sto tibia povliko isulenje?“ – was war das schönste, das du heute erlebt hast?
Leider versteht sie es nicht. Also laufen wir nebeneinander aus dem Park an einer elendslauten Strasse entlang. Ich bin wptend über die Lautstärke. Merke, wie ich mich gerne in Ruhe unterhalten will – die Sprachbarriere ist auch so schon gross genug. Ich schlage eine Minute Eye contact vor. Am Hafen Emenünüs setzen wir uns auf einer marmorne Bank. Sie macht es mit und hat dabei ihre Lippen zu einem fast unkenntlichen Grinsen geöffnet. Der Wind wirft ihre blonden Haare von links über ihre Stirn. Schön. Dann ist der Moment vorbei. Sie geht und ich mache mich auf Richtung Galata Turm zu Kilian.
Kilian hat mich nach meinem Aufruf im Radreise Forum angeschrieben. Er hatte überlegt, mich ein Stück zu begleiten. Jetzt möchte er allerdings in Istanbul bleiben.
2017 war er von Deutschland nach Istanbul geradelt und zunächst „für ein paar Monate hängen geblieben“. Unter anderem wegen seiner Exfreundin, die er dort kennen gelernt hat.
Ein spannender Mensch. Al Galatatower erkenne ich ihn sofort an seinem offenen Blick aus der Menge heraus, ohne je ein Foto von ihm gesehen zu haben.
Kilian ist nach seinem „Aufenthalt“ in Istanbul weiter bis nach Bangkok geradelt. Über Tadschikistan, den Pamirhighway und schliesslich durch die Wüste Taclamacan. Bei seinen Erzählungen fühle ich mich etwas unterlegen.
Wir essen in einem dunkleren Laden, bei dem man sich bis zu 5 verschiedene, warmgehaltene Gerichte auf den Teller laden kann. Bei allen läuft mir selbst jetzt im Nachhinein noch das Wasser im Mund zusammen.
Ein gewürzter, orange-rötlicher Couscous. Spinat. Kichererbsen in Tomatensoße und Joghurt dazu. Die Türken servieren ihr Gemüse sehr weich gekocht. Alles passt wunderbar gemeinsam in den Mund und erlaubt Vielfraßen wie mir ein gelungenes Stopf-Fest.

Ich beschliesse die Istanbul-Boulderhalle zu besuchen und Kilian sagt, dass er mich begleiten will auf die anatolische Seite. Bergab ind treppab stelle ich die Frage in den Raum, wie die Menschen in den letzten Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden auf die Idee kamen in diese Topographie eine riesige Stadt zu bauen. Nicht nur, dass Istanbul hügelig, gerade zerfurcht ist und neben dem Bosporus noch zwei weitere kanalartige Einschnitte aufweist. Nein, die Hügel sind so plötzlich und so steil, dass sich ein durchqueren mit dem Fahrrad als durchaus aufwendig gestaltet. Jetzt gerade geht es vom Galats Turm wieder 50 Höhenmeter bergab. Wir steigen in Karaköy in die Fähre und landen in Kadiköy.

In der Boulderhalle liege ich nach einem dritten Versuch an einem „hard“-boulder auf der Matte und checke meinen Körper durch. Ein entzündeter Spreisel am rechten Zeigefinger, eine kleine Wunde am rechten Mittelfinger (die ich mir beim kläglichen Versuch, eine Weinflasche zu öffnen zugezogen habe) und die tiefe Schnittwunde am linken kleinen Zeh. Ich schaue mir den Boulder an.
Claire, eine Amerikanerin, die hauptsächlich in der französischen Schweiz lebt, ermutigt mich zu einem weiteren Versuch.
Aus dem Lautsprecher klingen die ersten Töne von Rammsteins „Sonne“. Die harten Klänge geben mir die nötige Energie.
Auf gehts: zwei henkelige Startgriffe an einer senkrechten Wand, kleiner Tritt. Nach links eindrehen und den Schwerpunkt nach rechts. Der rechte Arm greift weit nach rechts in die leicht überhängende Wand; ich erreiche den haöbmondförmigen Sloper, den meine Hand zangenartig umschliesst. Ein Tritt darunter für rechts. Sobald mein Schwerpunkt zu weit von der Wand weg ist, kann ich den Sloper nicht mehr halten. Also tief bleiben. Der linke Fuss muss auf den Tritt. Dann, mit weiter tiefem Schwerpunkt und nah an der Wand, mit links den nächsten Sloper. Körper drehen, die rechte Hand legt sich nun auf die linke Seite des Griffs. Nach oben schauen und diesen Bergrückenartigen Griff fixieren. Wenn ich ihn ganz oben erreiche – abspringen… und getroffen. Die Beine hängen in der Luft, etwa 80% meines Gewichts hängt an dem Griff. Tritt finden, die linke Hand dazu, in diesem Winkel eine volle Zange. Dadurch löst sich die rechte Hand – für diese rechts aussen nur ein Aufleger. Rammsteins Sonne endet.
Stattdessen klingt Offspring mit „the kids arent alright an“. Ich säusele mich in die schnellen Verse, fixiere den Topgriff und springe – yes! Top erreicht.

Gute Nacht

Ein Kommentar zu “„The kids arent alright“. Istanbul, Tag 1

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